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Strategien der Vergegenwärtigung
relations im Gespräch mit Gerald Knaus, Leiter der European Stability Initiative (ESI), über Mythen, Kunst, Empirie und die notwendige Arbeit an der Bewusstmachung.

 
Gerald Knaus, wenn sie eine Karte von Europa malen sollen, was würden Sie rot einzeichnen?
 
Gerald Knaus: Wenn man auf die Website der EU-Kommission geht, kann man Karten der derzeitigen EU-Kandidaten und Mitgliedsländer in verschiedenen Farben sehen. Manchmal blau, manchmal in verschiedenen Rottönen, um Arbeitslosigkeit anzuzeigen, manchmal Grüntöne für das divergierende Pro-Kopf-Einkommen. Und dann gibt es die weißen Flecken - Gebiete, die weder EU-Kandidatenstatus haben noch Mitglieder sind, und die aus der Perspektive der Entscheidungsträger noch immer nicht wahrgenommen werden als Teil dieses Europas. Für die werden auch keine Daten erfasst. Die derzeitigen Europakarten zeigen inmitten Europas einen großen weißen Fleck, und das ist der West-Balkan. Dazu kommen die weißen Flecken am Rande: Ukraine, Moldau. Diese weißen Flecken versuchen wir von ESI, wenn Sie so wollen, rot zu zeichnen: Wir versuchen, durch angewandte empirische Forschung vor Ort Themen aufzugreifen, von denen wir glauben, dass sie für die gesamteuropäische Diskussion wichtig sind, und sie auf eine Weise zu präsentieren, die sie erkennbar macht für die öffentlichkeit.
Gleichzeitig ist unsere Forschung stark darauf konzentriert, auf diejenigen Einfluss zu nehmen, die direkt Entscheidungen treffen. Sowohl vor Ort als auch in Brüssel oder Washington.
 
Werden diese Gebiete und ihre Situation wirklich nicht wahrgenommen? Oder werden sie nicht vielmehr bewusst ausgeblendet - weil ihre Anerkennung eine änderung der europäischen Politik nach sich ziehen müsste, die politische Entscheidungsträger vermeiden wollen?
 
Das bestärkt sich gegenseitig. Nehmen wir zum Beispiel das Kosovo. 40% der Erwerbstätigen sind in der Landwirtschaft, und die ist auf dem Niveau des letzten Jahrhunderts: winzige Subsistenzlandwirte, ohne jedes Kapital, ohne jegliche Chance, etwas zu sparen. Wenn das von Seiten der europäischen Institutionen untersucht würde, würde schnell sichtbar, dass die meisten Produkte auf dem lokalen Markt aus Griechenland oder Ungarn kommen, wo die Bauern subventioniert werden. Dann stellte sich natürlich die Frage: Was tun? Wenn man jedoch diese Informationen ausblendet, stellen sich ganz andere Fragen. Man behauptet etwa, die Unterentwicklung komme von der organisierten Kriminalität, die Investitionen verhindere. Die Lösung besteht dann praktischerweise darin, das zu tun, was wir ohnehin schon tun, nämlich Soldaten und Polizei in das Kosovo zu schicken und die Grenzen dicht zu machen. Und diese Sicht des Balkans, die Kriminalisierung von Entwicklungsproblemen, wird verstärkt, je mehr Konferenzen man über "trafficking of women", "organized crime" und "smuggling of drugs" finanziert. Je mehr internationale Polizisten dorthin geschickt werden, desto mehr schreiben die in ihren Berichten, dass dies nun tatsächlich die wichtigsten Probleme sind, weil sie ja dort sind, um sie zu lösen. Das führt zu einem Kreislauf der Wahrnehmung. Da ist es entscheidend, harte empirische Fragen zu stellen.
 
Sozialwissenschaftliche Analysen bemühen sich in der Regel darum, Missstände aufzuzeigen und auf ihre Ursachen hin zu analysieren. relations hingegen bemüht sich darum, Diskussionen zu befördern. Wir versuchen zu verstehen und zu vermitteln, wie aktuell über bestimmte Probleme an einem bestimmten Ort diskutiert wird. Welche Zukunftsvisionen werden dort von KünstlerInnen und Intellektuellen entwickelt? Welches Vokabular wird benutzt, welche künstlerische Sprache und Praxis? Wir kooperieren mit Intellektuellen und KünstlerInnen, die sich mit brisanten Themen auseinandersetzen und etwas bewegen wollen. Visionen zu entwickeln, vor Ort Auseinandersetzungen anzuregen und nach außen hin verstehbar zu machen, das ist das Ziel. Das Provokante unserer Arbeit liegt womöglich genau darin, mit den KünstlerInnen eben nicht über so erwartbare Themen wie Mafia, Frauenhandel oder Krieg zu sprechen, sondern über mögliche Entwicklungen der Kunst und Kultur und damit auch der Zivilgesellschaft.
Mit anderen Worten: Wir unterlaufen jeden Opferdiskurs, indem wir den thematischen Ansatz in den Mittelpunkt stellen. Für uns sind die KünstlerInnen, die mit uns zusammenarbeiten, die Experten, von denen wir lernen und mit denen wir diskutieren.

 
Die Arbeit mit Experten vor Ort ist auch für ESI grundlegend. Im Kosovo arbeiten wir zum Beispiel mit einer Gruppe junger SozialwissenschaftlerInnen zusammen, die die Relevanz von Prištinas urbaner Vergangenheit für die Entwicklung der Stadt erforscht. Das ist immens wichtig, denn es gibt keine empirische Sozialforschung an den meisten Hochschulen der Region; ihr Zustand ist eine Katastrophe im West-Balkan. Da wird mit Büchern aus den 70ern gearbeitet, die die StudentInnen von den ProfessorInnen kaufen müssen, weil die damit ihr Geld verdienen. Es ist also notwendig, Leuten zu helfen, auf die Beine zu kommen. Wir versuchen das mit dem Aufbau lokaler Think Tanks.
Meiner Meinung nach wurde viel zu wenig in das investiert, was auch relations im künstlerischen Bereich versucht: dauerhaft mit neuen Institutionen und den Medien vor Ort an der Erforschung der jüngeren Vergangenheit zu arbeiten.
 
Die Auseinandersetzung mit Geschichte und Erinnerung ist sehr präsent bei den relations-Projekten. Wir stellen immer wieder fest, dass es im intellektuellen Diskurs ein Kämpfen dafür gibt, die 40 Jahre Kommunismus oder Sozialismus nicht einfach auszuradieren, sondern provokativ die Frage zu stellen: Welche Erfahrungen aus dieser Zeit können heute produktiv gemacht werden? Zum Beispiel: Bietet die kollektive Erfahrung unter sozialistischen Vorzeichen die Möglichkeit, dem Neoliberalismus etwas entgegenzusetzen? Für viele der relations-Projekte ist es ein wichtiges Anliegen, den manchmal sehr selektiven Umgang mit der jüngsten Vergangenheit zu durchbrechen und eine Sprache zu entwickeln, die es erlaubt, Systemalternativen politisch zu diskutieren.
 
Es ist genau das große Problem der Region, dass über die letzten 30 Jahre der politischen, aber auch sozialen und ökonomischen Entwicklungen eben nicht geforscht und nicht seriös diskutiert wird. Man redet abstrakt über den "Dritten Weg", aber sagt nicht, was konkret passiert ist. Ein Beispiel: Bosniens Industrialisierung. Der Schlüssel zur bosnischen Industrialisierung war die jugoslawische Rüstungsindustrie.
Waffen zu produzieren und gegen Rohstoffe an die Dritte Welt zu verkaufen, war ein Kernstück des "Dritten Weges". Bosnien war Titos Festung. In Vitez stand die Militärfabrik, in Bugojno wurde Munition produziert, in Sarajevo Kanonen und in Mostar Kampfflugzeuge. Aber niemand überlegt, was das heute für die Ausgangslage der bosnischen Wirtschaftsreformen heißt. Es wird allgemein über "Kapitalismus" und "das westliche Modell" geredet und dabei unglaublich ahistorisch diskutiert.
Auch von ausländischen BeraterInnen, die sagen: "Schafft einfach ein gutes Business Climate, dann werden die Investoren schon kommen."
 
Aber hängt die Weigerung der Entscheidungsträger, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen, nicht auch mit Emotionen wie Scham oder Minderwertigkeitsgefühlen zusammen? Schließlich existiert ein gesellschaftliches Interesse an der eigenen Vergangenheit. Nur wird es im Moment vielfach im Modus der Nostalgie verhandelt oder über einen heillosen Identitätsdiskurs kanalisiert. Ein Umstand übrigens, der wiederum Anschlussmöglichkeiten an Diskussionen in Deutschland bietet, Stichwort: "Ostalgie" oder "Frustrierte".
 
Ich glaube nicht, dass das mit dem Kappen der Beziehungen zur kommunistischen Tradition zu tun hat. Es würde doch am meisten wehtun, genau hinzuschauen, wie der Kommunismus in diesen Ländern wirklich funktioniert hat. Denn viele der Mythen des Kommunismus leben ja heute fort. Und es ist im übrigen auch nicht so, dass nur die Bosnier die Frage nach ihrer Wirtschaftsgeschichte nicht gestellt hätten. Auch die Weltbank hat das nicht getan.
 
Kommen wir zurück zur eigenen Arbeit und Interaktion. Nach einer ersten Phase, in der relations Kunst - und Kulturprojekte in Ost- und Mitteleuropa initiiert und unterstützt hat, wurden Partnerschaften zu deutschen Kulturinstitutionen hergestellt, die ab diesem Sommer die Ergebnisse ihrer Kooperationen in Deutschland präsentieren. Bei der Kommunikation dieser Themen aus dem östlichen Raum in Deutschland geht es uns darum, klar zu machen, dass es dort eine urbane, innovative Denktradition gibt, die auch für uns hier spannend ist. Mehr noch: Von der wir lernen können. Und zwar viel.
Es war schon toll zu beobachten, wie viele unerwartete Bewusstwerdungsprozesse allein durch die längerfristigen institutionellen Kooperationen in Gang gesetzt wurden. Durch den StudentInnenaustausch etwa der alternativen Kunstakademie in Priština mit der Städelschule in Frankfurt/Main kommt es nicht nur, wie vorgesehen, zu gemeinsamen Arbeiten und Ausstellungen, sondern auch zu dem Symposium "Was ist eine Kunstakademie heute?". Denn auch in Deutschland, wo die Frage schon lange beantwortet schien, hat sie sich durch die Konfrontation mit der anderen Erfahrungswelt neu gestellt. Darauf zielen wir: weniger auf Hilfestellung, als auf Diskussionen auf Augenhöhe.

 
Das ist unserer Vision, wie sich Europa dem West-Balkan nähern sollte, sehr ähnlich. Zu sagen: Es gibt dort wenig Ressourcen, also müssen die in dieser übergangsphase von außen beigesteuert werden, sonst ist kein Diskurs möglich. Zu sagen: Ihr gehört dazu, wir helfen euch trotzdem. Das müsste als Prinzip für europäische Politik auf alle anderen Bereiche der Gesellschaft ausgedehnt werden, damit StudentInnen mit ihren Diploma an alle europäischen Universitäten gehen können, Landwirte ihre Produkte in ganz Europa verkaufen können, und und und. Es gibt nicht ein europäisches Modell, es gibt dreißig. Deshalb brauchen wir Erfahrungsaustausch. Dieses Modell, Kohäsion im weitesten Sinne, sagt: Wir wollen keine weißen Flecken auf der Europakarte haben, und wir haben eine Verantwortung, aktiv dagegen anzugehen.
 
Wird in den realpolitischen Kreisen, in denen Sie agieren, Kunst- und Kulturprojekten die Kraft zur Veränderung zugetraut?
 
Vor kurzem war ich bei einem Treffen ehemaliger Staats- und Regierungschefs, alle Mitglieder einer internationalen Balkan-Kommission, die an Empfehlungen arbeitete, wie sich die europäische Politik dem Balkan nähern soll. Das Treffen wurde mit dem Dokumentarfilm "Whose Is This Song?" der bulgarischen Regisseurin Adela Peeva eröffnet. Es ging dabei um ein Volkslied, von dem jedes Balkanland überzeugt ist, dass es seine Folklore ist, obwohl es das Lied von der Türkei bis Albanien, Kosovo, Serbien, Griechenland überall gibt. Eine sehr berührende und beunruhigende Dokumentation, weil natürlich ein enormer Streit darüber ausbricht, wem das Lied gehört. Ich glaube, dass gerade Dokumentarfilme aus der Region sich sehr gut dazu eignen, ausgeblendete Wirklichkeiten wieder sichtbar zu machen, und dass es hier viele Möglichkeiten für eine engere Zusammenarbeit von KünstlerInnen und SozialwissenschaftlerInnen gibt. Aber auch Kunstprojekte wie die Initiative in Mostar, ein Bruce-Lee-Denkmal aufzustellen, bewirken positive Diskussionen.
 
Ungewöhnliche Kombinationen und Konfrontationen unterschiedlichster Akteure, sowohl aus dem künstlerischen als auch aus dem kulturellen und dem politischen Bereich, halten wir für extrem fruchtbar. relations ist nicht angetreten zu wiederholen, was der internationale Kunstmarkt macht.
Bei unserem dreijährigen Projekt steht nicht das Ergebnis im Vordergrund, in Form etwa einer großen Ausstellung. Uns geht es um den Prozess der Konfrontation und immer wieder um Feinjustierung, die aus dieser Konfrontation erwächst. Wenn das gut geht, führt es zu einer Wendung von Themensetzungen und zur Erweiterung des Vokabulars. Am Ende vertritt keiner mehr genau das, was er noch vor anderthalb Jahren vertreten hat. Oder er hat immerhin drei Begriffe mehr dafür. Es geht uns also ums produktive Streiten, damit ich hinterher auf einer anderen Relaisstation stehe und neue Verbindungen eingehen kann. Diese Basisarbeit ist für uns das Wichtige.

 
Für relations nahmen Katrin Klingan, Ines Kappert und Peter Wellach an dem Gespräch teil. Editiert von Christiane Kühl.
 
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