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Ein Projekt des Kunsthaus Dresden in Zusammenarbeit mit Visual Seminar, Sofia, und relations.

WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL ist ein Resultat von Begegnungen und Diskussionen zur Entwicklung städtischer Räume zwischen Dresden und Sofia, angeregt durch relations. In beiden Städten und Kommunen finden seit dem Systemwechsel vom Sozialismus zum Kapitalismus unterschiedliche Wandlungsprozesse statt. Grob beschrieben findet man hier zwei verschiedene Spielarten des Kapitalismus: einen durch Verordnungen regulierten „zivilisierten Kapitalismus“ westlicher Prägung und einen „wilden Kapitalismus“ des Übergangs im ehemaligen „Ostblock“. Wie schlagen sich Privatisierungen und gesellschaftliche Transformationsprozesse im Erscheinen post-sozialistischer Stadträume nieder und welche Interessen führen zur Neuordnung öffentlicher Räume? Welche Stadträume bringen die verschiedenen Formen des Kapitalismus hervor und wie sieht ihre Zukunft aus? Workshops, Vorträge und ein internationales Symposium von KünstlerInnen, KulturwissenschaftlerInnen und SoziologInnen im World Trade Center Dresden untersuchen diese verschiedenen Erscheinungsformen des Kapitalismus im Stadtraum und bilden die erste Phase des Projektes im August 2005. Eine Ausstellung im Kunsthaus Dresden und künstlerische Interventionen in der Stadt werden als Ergebnis im Frühjahr 2006 präsentiert.

Wild CapitalWild CapitalWild Capital

„Der Sozialismus siegt“ - dieser Slogan stand für mehrere Jahre in hellen Neon-Lettern auf dem Pirnaischen Tor, einem Wohn- und Gaststättenkomplex im Herzen der Dresdner Innenstadt, bevor er Ende der achtziger Jahre über Nacht abmontiert wurde und nunmehr nur noch in Erinnerungen, so unter anderem in Via Lewandowskys Beitrag für das Leipziger Projekt „Heimat Moderne“ fortbesteht. Obwohl das Erscheinungsbild der Städte sich im Übergang vom Sozialismus zum neuen Gesellschaftssystem massiv verändert hat, wäre es wohl kaum vorstellbar, dass heute ein Schriftzug mit dem Wortlaut „Der Kapitalismus siegt“ auf einem Gebäude prangend das neue Wirtschaftssystem bewirbt. Dennoch wird der Systemwandel durch Neubauten, Werbung, die Rekonstruktion historischer Bauten und die touristische Vermarktung städtischer Räume sichtbar.

WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL lautet der Titel eines im Spätsommer und im Winter in Dresden stattfindenden Projekts, das auf Begegnungen zwischen Sofia und Dresden basiert. Es verdankt seinen Ursprung zwei unabhängig voneinander entstandenen Initiativen: Dem Visual Seminar aus Bulgarien, einem Projekt des Institute of Contemporary Art Sofia in Zusammenarbeit mit dem Center for Advanced Study in Sofia, welches sich über einen Zeitraum von zwei Jahren den Veränderungen des Stadtbildes im Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus widmet, und einer Gruppe von KünstlerInnen, KuratorInnen und anderen kulturellen AkteurInnen aus Deutschland und Westeuropa, die seit mehreren Jahren zum gesellschaftlichem Wandel des urbanen Raumes in Dresden gearbeitet haben, unter anderem in dem Projekt „DRESDENPostplatz“, und im Umfeld des Kunsthauses Dresden weiterhin aktiv sind. Ausschlaggebend für die Zusammenarbeit für WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL war die Begegnung beider Projekte im Rahmen von relations.

Beide Städte und Kommunen, Sofia und Dresden, befanden und befinden sich in einem Prozess, der als „Strukturwandel“ beschrieben wird. Die ökonomischen Prozesse, die in diesem Prozess ablaufen, könnte man jedoch grob als zwei unterschiedliche Spielarten des Kapitalismus fassen: Eine durch Verordnungen regulierte Version eines „zivilisierten“ Kapitalismus westlicher Prägung und eine „wilde“, unregulierte Spielart des ehemaligen Ostblocks. In Dresden haben strenge Verordnungen und Gestaltungsvorgaben Hand in Hand mit kommunalen und unternehmerischen Bemühungen um eine touristische Verwertung zu einem Fokus auf das „historische Erbe“ und dem vereinheitlichten, stromlinienförmigen „Image“ eines „barocken“ innerstädtischen Zentrums geführt, ungeachtet aller Dissonanz der realen historischen Bausubstanz, die vom Historismus des 19. bis zur sozialistischen Moderne des 20. Jahrhunderts reicht. Im extremen Gegensatz dazu lassen sich die Entwicklungen im Zentrum von Sofia beobachten: Hier regieren die möglicherweise „wilden“, in jedem Fall aber kaum regulierten Prioritäten einer großen Vielfalt von Verwertungsinteressen: vom Pionierkapitalismus in Form von wilden Plakatflächen, Imbissbuden und Kiosken bis hin zu den verspiegelten Architekturen der Mittel- und Großinvestoren.

Wie verändern sich postsozialistische Städte in Architektur und Nutzungskonzepten unter dem Primat ökonomischen Wettbewerbs und durch Privatisierungen? Welche Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten erzeugen ökonomische Prozesse im Stadtbild? Wie schlagen sich gesellschaftliche Transformationsprozesse im Erscheinen der Stadt nieder und welche Interessen führen zur Neuordnung öffentlicher Räume? Dies sind die Ausgangsfragen, die die kuratorischen Teams sowohl in Dresden als auch in Sofia über die Dauer ihrer sehr unterschiedlichen Projekte und Aktivitäten begleiten. Entsprechend der in Dresden und Sofia zu beobachtenden realen Gegebenheiten führen diese Fragen zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen und Thesen - und zu erheblichem Diskussionsbedarf und Kontroversen, die den eigentlichen Spannungsbogen des in Dresden entwickelten Projektes WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL im Dialog mit den ProtagonistInnen aus Sofia ausmachen.

Während in Sofia mafiöse Machenschaften und informelle Ökonomien gleichermassen das Stadtbild bestimmen und zum Ohnmachtsgefühl einer kritischen Kulturszene beitragen, wird in Dresden durch ein Übermaß an „Ordnung“ und die systematische Ausblendung historischer wie auch gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse durch stringente „Imagepolitik“ das zunehmende Unbehagen kritischer Stimmen generiert. In welchem Maße lassen sich jedoch die gesellschaftlichen und visuellen Erscheinungsformen des Kapitalismus in den beiden Städten tatsächlich nach Kategorien von „wild“ oder „zivilisiert“ unterscheiden? Informelle Ökonomien, touristische Vermarktung, Denkmalschutz, zivilgesellschaftliches Potential oder sein Mangel sowie der Zugang zu Medien sind, unter anderem, das Ergebnis politischer Entwicklungsprozesse zwischen deutscher Wiedervereinigung und EU-Beitrittsverhandlungen.

Der Gebäudekomplex Pirnaisches Tor in der Dresdner Innenstadt steht heute zu einem maßgeblichen Teil leer. Dschungelgesetze, Raubkatzen, scheue Rehe - das ist nur eine Auswahl von Metaphern aus der Tierwelt, die zur Beschreibung von Kapitalverhalten in der Vergangenheit bemüht wurden und auch aktuell gerne wieder bemüht werden. Inwieweit informelle Ökonomien oder die Regulierung von Zugängen zu urbanen Räumen und aktiver wirtschaftlicher Beteiligung die jeweiligen Entwicklungshorizonte in Europa bestimmen werden, welche Auswirkungen dies für das symbolische Kapital und die gesellschaftliche Realität urbaner Räume nach sich zieht und wie ein Erfahrungsaustausch zwischen „wildem“ und „zivilisiertem“ Kapital zwischen EU-Gründungsmitgliedern und Beitrittskandidaten aussehen könnte, damit beschäftigen sich im August öffentliche Führungen, Vorträge und Workshops und im Dezember/Januar eine Ausstellung und künstlerische Interventionen im Stadtraum von Dresden. WILDES KAPITAL untersucht dabei einerseits urbane Strukturen des Kapitals und versteht andererseits die Strategien und Methoden der Workshop-Beteiligten und Beiträge selbst als „wildes“, da in planerische Prozesse nicht einbezogenes, zivilgesellschaftliches Kapital.

Christiane Mennicke, Kuratorin und Direktorin des Kunsthaus Dresden, über WILDES KAPITAL / WILD CAPITAL.

Der Text erschien unter dem Titel „Stadt als Spiegel“ in read relations 3 (08/2005), der Zeitung zum Projekt relations.