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Seit drei Jahren stehen Katrin Klingan und Ines Kappert durch ihre Arbeit für das Projekt relations in intensivem Austausch mit Kulturschaffenden in Ländern des östlichen Europas. Alltag und Visionen, gesellschaftliche Realitäten und ästhetische Praktiken stehen im Zentrum dieses Diskurses, der mal in Cafés, mal auf Symposien, per E-Mail oder im Gespräch, in Ausstellungen oder auf Zugfahrten stattfand. Ausgangspunkt war dabei stets die spezifische Situation vor Ort, Ziel die Anbindung der lokalen Kontexte an den internationalen Diskurs und umgekehrt. Was ist Thema heute in Warschau? Welche Relevanz hat Kunst in Chişinău? Wie werden Helden gemacht in Bosnien-Herzegowina? Und was bedeuten diese Erfahrungen für die Öffentlichkeiten dieser Städte, was für die Verortung eines europäischen „Wir”?
Sprung in die Stadt stellt rund 50 Autoren, Künstler und Fotografen und ihre Positionen zur Gegenwart in Essays, Gesprächen, Fotografien, in literarischen Texten und künstlerischen Arbeiten vor.

Bildstrecken aus Sprung in die Stadt (Auswahl): Sean Snyder, Digitaldrucke und Videostills, 2004, SofiaBildstrecken aus Sprung in die Stadt (Auswahl): Sean Snyder, Digitaldrucke und Videostills, 2004, SofiaBildstrecken aus Sprung in die Stadt (Auswahl): Sean Snyder, Digitaldrucke und Videostills, 2004, SofiaBildstrecken aus Sprung in die Stadt (Auswahl): Sean Snyder, Digitaldrucke und Videostills, 2004, Sofia
Bildstrecken aus Sprung in die Stadt (Auswahl): Sean Snyder, Digitaldrucke und Videostills, 2004, Sofia
Wie Gegenwart ins Auge fassen? Diese Frage durchzieht unser Buch wie ein roter Faden. Wobei der Titel die Voraussetzung einer Antwort beschreibt: Alle Künstler und Autoren, die zum Buch beigetragen haben, wagen den Sprung in die Stadt, in die eigene oder fremde. Sie setzen sich aus, sie beziehen Position im Hier und Jetzt. Es geht um die Entwicklung von Texten und Bildern, die es erleichtern, den Blick zu wenden; die es erlauben, Bekanntes und Unbekanntes jenseits des Spektakulären oder Exotischen zu fassen. So werden Perspektiven eröffnet. Teilhabe, oder vielleicht besser: Zeitgenossenschaft, ist damit der Ausgangspunkt eines jeden Beitrags des Buches.
Sprung in die Stadt liefert keine Stadtportraits. Genauso wenig wird hier Osteuropa anhand einer Auswahl seiner Hauptstädte vorgestellt. Vielmehr versucht das Buch, eine Bewegung einzufangen. Seit drei Jahren sind wir im Rahmen unserer Arbeit für relations im steten Austausch mit Künstlern und Kulturschaffenden in Chişinău, Ljubljana, Pristina, Sarajevo, Sofia, Warschau und Zagreb. relations ist ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes, das seit 2002 in den genannten Städten Kunst- und Kulturprojekte unterstützt und ihre lokalen Kontexte an internationale Debatten anschließt (www.projekt-relations.de). In der festen Überzeugung, dass Kunst und Kultur das vitale Zentrum einer Gesellschaft bilden, haben wir in den letzten Jahren viele Reisen unternommen, um Künstlern und Theoretikern vor Ort immer wieder folgende Fragen zu stellen: Was ist in dieser Stadt heute Thema? Was ist für euch relevant? Welche Vision und welche Kritik müssen in eine breitere Öffentlichkeit getragen werden? Was kann eurer Ansicht nach die Kunst hier leisten? Sprung in die Stadt greift diese Themensetzungen auf und rahmt sie. Für jedes Stadt-Kapitel haben wir Künstler und Fotografen eingeladen, Arbeiten eigens für die Publikation anzufertigen. Gleichzeitig sprachen wir mit Schriftstellern, Kuratoren, Journalisten, Ökonomen und Soziologen. Viele machten sich daraufhin ebenfalls auf die Reise, denn die Konfrontation von Innenperspektive und Außenblick ist uns ein zentrales Anliegen. Wie stellt sich etwa Sofia für einen Besucher dar, wie für den Sofioter? Wovon erzählen uns die Differenzen?
Nach und nach haben wir – unterstützt durch unsere Berater Marius Babias, Mathias Greffrath und Georg Schöllhammer – umfangreiches Material aus den verschiedensten Bereichen zusammengetragen. So ist ein Lesebuch entstanden, das originäre künstlerische Beiträge und Essays, Reportagen, Fotostrecken, Gespräche und Analysen versammelt. Kapitel für Kapitel werfen wir Schlaglichter auf Städte und ihre aktuellen Diskussionen.
Chişinău, Hauptstadt von Moldau: Was bedeutet es, aus einer Außenseiterposition kritische Kulturarbeit zu leisten? Welche Sprache finden Wut, Sarkasmus und eine unerschütterliche Selbstironie? Sofia: Eine Stadt macht sich europatauglich und verändert ihr Äußeres radikal. Wer sind ihre neuen Besitzer, welche neuen visuellen Oberflächen und Codes bringen sie mit? Das Kosovo und seine Hauptstadt Pristina sind gezeichnet von der Unsicherheit ihres Status: Wird die Vision von einer Unabhängigkeit 2006 Realität werden können? Welche Konsequenzen hat das Einfrieren einer Gesellschaft als Protektorat der UN für den Alltag ihrer Mitglieder?
Sarajevo, rund zehn Jahre nach dem Krieg: Was bedeutet es hier und heute, die Frage nach der herrschenden Erinnerungspolitik zu stellen? Welche Strategien der Vergegenwärtigung kommen zum Tragen? Welche nicht? Zagreb: Intellektuelle und Künstler rollen die Geschichte ihrer Netzwerke neu auf: "Das zweite Leben der Kollektive" als Antwort auf die neuen Verhältnisse zwischen Nationalismus und Kapitalismus. Warschau, boomende Hauptstadt Polens: Die Kritik am Neoliberalismus schärft sich und die Teilhabe an Europa gewinnt an Selbstverständlichkeit. Ljubljana: Zum Selbstverständnis der Ljubljaner gehört seit jeher die internationale Vernetzung und eine außergewöhnlich lebendige Kunst- und Kulturszene. Angesichts der sich verändernden politischen und ökonomischen Situation streiten Intellektuelle und Künstler für die Beibehaltung dieser Offenheit. Was bedeutet Internationalität heute in Ljubljana?
Das sind nur einige Beispiele. Es sei wiederholt: Es geht um Zeitgenossenschaft. Es geht um Distanznahme in der Empathie. Es geht darum, eine Ahnung zu bekommen, wie Alltag sich gestaltet, welche Visionen Perspektiven eröffnen, worüber gelacht und worüber gestritten wird.

Katrin Klingan und Ines Kappert