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Wir beginnen mit Chişinău, der Hauptstadt von Moldau, und beleuchten, was es bedeutet, aus einer politischen und kulturellen Außenseiterposition heraus kritische Kulturarbeit zu leisten. Welche Formen nehmen Wut und Sarkasmus und eine unerschütterliche Selbstironie dort an?
Sofia setzt seit einigen Jahren viel daran, europatauglich zu werden, und verändert dabei sein Äußeres radikal. Wer sind die neuen Besitzer der Stadt, und welche neuen visuellen Oberflächen und Codes bringen sie mit? Das Kosovo und seine Hauptstadt Pristina sind gezeichnet von der Unsicherheit ob ihres Status: Wird die Vision von Unabhängigkeit 2006 Realität werden können? Welche Konsequenzen hat das Einfrieren einer Gesellschaft als Protektorat der UN für den Alltag ihrer Mitglieder?

Bildstrecken aus Sprung in die Stadt (Auswahl): Ziyah Gafić, Fotografien, 2001-2004, Bosnien-Herzegowina Dem einst hart umkämpften Sarajevo nähern wir uns rund zehn Jahre nach dem Krieg mit der Frage: Was bedeutet es hier, die herrschende Erinnerungspolitik einer Analyse zu unterziehen? Welche Strategien der Vergegenwärtigung kommen zum Tragen? Welche nicht?
In Zagreb, der Hauptstadt des Nachbarlands Kroatien, rollen Intellektuelle und Künstler die Geschichte ihrer Netzwerke neu auf: Das zweite Leben der Kollektive ist eine Antwort auf die neuen, von Nationalismus und Kapitalismus bestimmten Verhältnisse. Welche Widerständigkeit entwickeln die Kollektive und Netzwerke der Gegenwart?
Die Hauptstadt Polens boomt. Zugleich schärft sich in Warschau die Kritik am Neoliberalismus. Wie verhält sich eine kritische zeitgenössische Kunst zu Tendenzen einer gesellschaftlichen Retraditionalisierung bei gleichzeitiger Liberalisierung des urbanen Lebens?
Zum Selbstverständnis der Ljubljaner gehört seit jeher die internationale Vernetzung und eine außergewöhnlich lebendige Kunst- und Kulturszene. Angesichts der sich verändernden politischen und ökonomischen Situation streiten Intellektuelle und Künstler für die Beibehaltung dieser Offenheit. Wie formulieren sie ihre Kritik, auf welche Gegenbewegungen lenken sie das Augenmerk? Was bedeutet Internationalität heute in Ljubljana?

Der thematische Zugang, den die Künstler und Autoren zu jeder der Städte eröffnen, ist eng an den jeweiligen lokalen Kontext geknüpft und weist zugleich über die Stadt- und Ländergrenzen hinaus. Insofern bleibt eine Frage durchgehend bestehen: Was erzählen uns diese Städte und ihre Bewohner über sich, was über uns?
Um der Heterogenität der Orte und Positionen gerecht zu werden, haben wir uns zu einer strikten Dramaturgie entschlossen. Für jedes Kapitel luden wir Künstler und Fotografen ein, Arbeiten eigens für die Publikation anzufertigen. Der Weg in die Stadt und zum Thema führt in diesem Band immer über die Kunst. Gleichzeitig sprachen wir mit Schriftstellern, Kuratoren, Journalisten, Ökonomen und Soziologen. Der jeweils erste Essay im Kapitel umreißt das Stadtthema aus einer Innenperspektive. Er wird begleitet von Fotoarbeiten bzw. künstlerischen Bildbeiträgen. Ein zweiter, kürzerer Beitrag greift einen thematischen Aspekt auf und bietet eine Vertiefung an. Es folgt eine Reportage, ein literarischer Text oder eine Mischform aus beidem, zumeist aus einer Außenperspektive formuliert. Der Wechsel und die Konfrontation von Innenperspektive und Außenblick durchziehen das gesamte Buch und finden ihre Fortsetzung in einem Gespräch zwischen Künstlern und Intellektuellen. Mitglieder der "relations"-Projekte diskutieren mit Kollegen, um unterschiedliche Positionen im Dialog greifbar zu machen und sie damit der Verhandlung auszusetzen. Bevor wir die jeweilige Stadt und ihre Szenen wieder verlassen, setzt eine künstlerische Arbeit diese noch einmal ins Bild. Abschließend bindet ein Essay die lokale Situation in einen größeren Diskussionszusammenhang ein: Wie arbeiten die neuen Eliten die Kriege der jüngsten Vergangenheit auf? Wer musealisiert die kommunistische Ära? Womit sichert die Europäische Union ihre Außengrenzen, und wen schützen eigentlich die Protektorate im ehemaligen Jugoslawien?

An die Stadtkapitel schließt sich der "Atlas" an. Denn jede Gegenwart hat ihre Hintergründe und ihre Vorgeschichte. Durch diese führt ein Text, der in kompakter Form die realpolitischen Verhältnisse skizziert und Daten zur Historie und der ökonomischen Situation einflicht. Auch für den "Atlas" spielt die Spannung zwischen subjektiver Perspektive und transnationalem Blick eine wichtige Rolle. Anstelle von scheinbar objektivem Datenmaterial bietet er eine faktenunterfütterte Erzählung an.
Am Ende des Buches kommen wir wieder zum Anfang zurück, das heißt zu den Kunst- und Kulturprojekten, die in den letzten drei Jahren im Rahmen von "relations" entwickelt wurden. Diese Projekte werden dort durch Kurzbeschreibungen und ein Verzeichnis sämtlicher Beteiligter dokumentiert.

Das vorliegende Buch ist ein Gemeinschaftswerk, das nur durch die intensive Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der "relations"- Projekte, mit allen Autoren und Künstlern sowie mit dem Beraterteam – Marius Babias, Mathias Greffrath, Georg Schöllhammer –, den Lektoren und Übersetzern entstehen konnte. Und dabei waren nicht allein viel Energie und Geduld nötig – auch die Sprachfindung als solche hat immer wieder unseren Erfindungsgeist gefordert. Das Experiment des Kulturaustauschs und der Übersetzung, das verbale Tasten, Fragen, Ausprobieren, begann bei nahezu jeder Kontaktaufnahme, bei nahezu jedem Gespräch und setzte sich in einer intensiven Textarbeit fort. So wurden die vorliegenden Beiträge aus acht Sprachen übersetzt. Das Resultat ist eine englische und eine deutschsprachige Ausgabe.

Bildstrecken aus Sprung in die Stadt (Auswahl): Ziyah Gafić, Fotografien, 2001-2004, Bosnien-Herzegowina Dass jede Übertragung den eigenen kulturellen Hintergrund bewusst oder unbewusst einschreibt, soll hier nur kurz in Erinnerung gerufen werden. Und wie immer sitzt der Teufel im Detail. Die Brisanz von Sprachregelungen lässt sich etwa an der Schreibweise der Stadt Pristina ablesen. Die Redaktion folgt hier der internationalen Konvention, die weder die albanische ( Prishtina ) noch die serbische ( Priština ) Schreibweise adaptiert, sondern eine eigene kreiert hat: Pristina. Unsere albanisch sprechenden kosovarischen Kollegen hingegen verwenden die albanische Schreibweise Prishtina. Denn das Kosovo gehört zur Staatenunion Serbien und Montenegro, gleichwohl sich im kosovarischen Selbstverständnis ein klares Votum für die Unabhängigkeit abzeichnet. Das vorhandene oder nicht vorhandene "h" in Pristina erzählt also die komplexe Geschichte eines bislang ungelösten Konfliktes um den Status der kosovarischen Gesellschaft. Aus diesem Grund haben wir uns, wie in anderen Fällen auch, gegen eine Vereinheitlichung entschieden und versucht, die derzeit gängigen Bezeichnungspraxen abzubilden.

Die Berücksichtigung und gegebenenfalls auch die Verteidigung von Heterogenität umfasst damit oft buchstäblich jedes Wort in diesem Buch. Lassen Sie sich irritieren. Und lassen Sie sich verführen – von einem unabgeschlossenen, dialogischen, kaleidoskopartigen und zwischen zwei Buchdeckeln sortierten Versuch einer Auseinandersetzung mit ortsgebundenen und gleichwohl grenzüberschreitenden Fragestellungen, mit in Bewegung geratenen Subjektivitäten, Blickregimen und Sichtachsen, Sprachregelungen und Bildwelten. Als notwendige Voraussetzung für diesen Versuch der Vergegenwärtigung und der Vermittlung galt uns stets die Verschränkung von Innen- und Außenperspektiven sowie eine Distanznahme in der Empathie. Denn für uns liegt in Lektüren, die sich der Spannung zwischen Innen und Außen aussetzen und die zwischen Empathie und Distanznahme zu wechseln vermögen, die Möglichkeit der Teilhabe oder, vielleicht besser: der Zeitgenossenschaft.

Katrin Klingan und Ines Kappert, Herausgeberinnen

Anmerkung
1. Ulrich Peltzer, "Erzählen ohne Grenzen. Kartographien des Romans", unveröffentlichtes Manuskript, Vortrag am 22. November 2005, Literarisches Colloquium Berlin.

Bildstrecken aus Sprung in die Stadt (Auswahl): Ziyah Gafić, Fotografien, 2001-2004, Bosnien-Herzegowina