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Von Tilman Rammstedt

Ganz zum Schluss habe ich das West-Werbeplakat dann doch fotografiert. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, genau das nicht zu tun, schließlich war mir bewusst, dass man in Osteuropa auf keinen Fall West-Werbeplakate fotografieren darf, dass Werbeplakate für West-Zigaretten in Osteuropa als Motiv noch weniger hergeben als der Eiffelturm, als die Freiheitsstatue, als ein blauer griechischer Fensterrahmen, doch es war trotz allem zu verlockend, am Ende der Reise endlich einmal etwas Deutliches dokumentiert zu haben, etwas, das klar meinen Erwartungen entsprach.
Die Plakate waren auch fast das Erste, was ich im Kosovo sah. Schon auf dem Weg vom Flughafen, nicht einmal eine halbe Stunde nach meiner Ankunft, prangten sie riesengroß alle paar Kilometer zwischen den halbfertigen Häusern ohne Putz, manchmal auch ohne Dach, sogar ohne Fenster, zwischen den improvisierten Tankstellen und Werkstätten, zwischen den vereinzelten Pizzerien, den Friedhöfen und blinkenden Denkmälern für die UÇK. Auf den Plakaten war ein Formel-1-Wagen kurz vor dem Beginn des Rennens zu sehen, und darunter stand: "Everything starts now".
Hier geht es jetzt also los, dachte ich auf dem Weg vom Flughafen, hier geht jetzt endlich etwas los, es ist ganz kurz davor, nur noch wenige Sekunden, dann kann der Wagen das Rennen beginnen, dann kann das Land mitfahren, sich messen, Runde um Runde, nur noch ein wenig warten, warten auf den Start, warten auf den Staat.
Nach nicht einmal einer halben Stunde hatte ich bereits die Bestätigung, dass meine Vorstellungen stimmten, beruhigt machte ich mir eine Notiz, die erste von vielen, die den Aufbruch beschreiben sollten, die Ungeduld, die Startlochposition, in der schließlich auch ich mich befand, mit aufgerissenen Augen durch das Taxifenster schauend, alles war Eindruck, erster Eindruck, prägender Eindruck, alles musste notiert werden, und zwei Wochen später war das Notizbuch dann tatsächlich voll mit all den Eindrücken, mit Zitaten, mit hilflosen Bewertungsversuchen, und von Seite zu Seite wurde deutlicher, dass die Vorstellung doch wieder einmal haltlos war und alles wieder einmal komplizierter, dass das West-Werbeversprechen wieder einmal ein leeres Versprechen blieb; aber das konnte ich nach einer halben Stunde Kosovo noch nicht wissen, das konnte ich höchstens ahnen. Die halbfertigen Häuser sahen nicht so aus, als ob sie bald fertig gestellt würden. Nirgendwo fanden Bauarbeiten statt, fehlende Fenster wurden durch Planen ersetzt, wenn das Dach fehlte, blieben die oberen Stockwerke eben leer, doch der Rest war bewohnt, Wäsche hing auf den unverputzten Balkonen, im Erdgeschoss gab es kleine Läden, das war kein Provisorium, das war längst Zustand.
Je häufiger ich "Everything starts now" in den folgenden zwei Wochen sah, desto weniger las ich es als Versprechen, eher als Aufforderung oder als Mantra, das, häufig genug wiederholt, irgendwann als Wahrheit hingenommen werden soll. Auch der Adressat schien mir auf einmal nicht mehr der kosovarische Konsument zu sein, sondern der ausländische Diplomat, der potentielle Investor oder gewöhnliche Besucher, und der Slogan war dann eine verlockende Interpretationshilfe für alles, was man sah, aber nicht verstand, weil innen, das weiß man, all das, was man sich außen ausgemalt hat, sehr schnell keine Gültigkeit mehr besitzt. […]

Tilman Rammstedt wurde 1975 in Bielefeld geboren und lebt heute als Autor in Berlin. 2003 erschien sein Erzähldebüt Erledigungen vor der Feier, 2005 folgte sein erster Roman, Wir bleiben in der Nähe. Mit der Band Fön veröffentlichte er 2004 das Album Wir haben Zeit.

Der Text ist ein Auszug aus Tilman Rammstedts Beitrag zu Sprung in die Stadt.